Paul Rubardt, Gustav Fock und Hans Henny Jahnn. Orgelhistorische Forschung um 1920/30
Der Orgelbauer Arp Schnitger (1648–1719) ist der musikinteressierten Öffentlichkeit wohlbekannt. Zahlreiche von seiner Werkstatt gefertigte oder wesentlich geprägte Instrumente überdauerten in Kirchen des nordwestlichen europäischen Kontinents die Jahrhunderte. Aufwändig restauriert, locken ihre (kunst)handwerklichen wie musikalischen Qualitäten Jahr für Jahr Gäste aus der ganzen Welt an die Orgelbänke; Konzerte, Tonaufnahmen, Wettbewerbe von und mit international renommierten Organisten vermitteln ihre Klanglichkeit an ein geographisch breit gestreutes Publikum. [...] Die Weichen für die besondere Präsenz der Orgeln und ihres Erbauers im Kulturleben der Gegenwart stellte vor gut einem Jahrhundert der Künstler Hans Henny Jahnn (1894–1959): Er und sein Freund Gottlieb Harms (1893–1931) stießen in der Hamburger Jacobikirche auf das 1689/93 von Schnitger für das Gotteshaus gebaute Instrument. Begeistert von den Klängen des altehrwürdigen, wenn auch damals „trostlos abgetakelten“ Werkes setzten sich die beiden fortan mit unermüdlichem Engagement für eine musikalische Wiederbelebung der Orgel ein, in deren Zentrum Kompositionen der ihr zugehörigen Epoche stehen sollten. Damit einher gingen Jahnns Bestrebungen, die Orgel unter Orientierung am Original wiederherzustellen, was in einer Zeit, in der das Wissen um die Beschaffenheit derart alter Instrumente gen null geraten war, als das reinste Abenteuer erscheinen musste. Einzig der Lübecker Orgelbauer Karl Kemper fand sich denn auch bereit, unter Jahnns Regie das Wagnis einer solchen Instandsetzung einzugehen – und die Jacobi-Schnitger-Orgel in der Folgezeit zum zentralen Studienobjekt orgelkundlicher Fragestellungen und damit zum Dreh- und Angelpunkt der Orgelbewegung zu machen.
Jahnn und Harms waren indessen weder die Ersten noch die Einzigen, die sich um den Orgelbauer bemühten. Auf weitaus leiseren Sohlen wissenschaftlich-theoretischer Arbeit hatten sich andere mehr aufgemacht, das Wirken Arp Schnitgers in Form von umfangreichen Studien zu erforschen: In Leipzig veröffentlichte der Musikwissenschaftler Paul Rubardt (1892–1971) 1927 in der Zeitschrift für Instrumentenbau ein auf Quellenstudien beruhendes vorläufiges Werkverzeichnis, das bereits auf diesem zugrunde liegende, weiterführende Ambitionen schließen lässt. Vier Jahre später wurde an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel Gustav Fock (1893–1974) mit einer Schrift über Arp Schnitger und seine Schule. Ein Beitrag zur Orgelbaukunst des niederdeutschen Kulturgebietes um 1700 promoviert. Beide Akteure mussten entsprechend vorher mit ihren Arbeiten begonnen haben.
Wer also waren diese Schnitger-Pioniere, die etwa zur selben Zeit Forschungen zu dem Orgelbauer in Angriff nahmen? Hans Henny Jahnn ist der Fachwelt durchaus bekannt: Sein Wirken als Schriftsteller und Orgelspezialist, insbesondere auch seine Aktivitäten rund um Hamburg St. Jacobi, wurden in der Literatur von Thomas Freeman, Elsbeth Wolffheim, Jan Bürger, Jochen Hengst und Heinrich Lewinski sowie Uwe Schweikert und Thomas Lipski gut aufgearbeitet. Zu Paul Rubardt und Gustav Fock liegen kaum detailliertere Informationen vor [..] Das vorliegende Buch möchte Werdegänge wie Arbeiten der Akteure umfassend beleuchten. So sollen die Anfänge der Schnitger-Forschung reflektiert und geistes- wie wissenschaftshistorisch verortet werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei die in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, im Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig und in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden überlieferten Nachlässe Focks und Rubardts. In ihnen finden sich nicht nur Spuren zu entscheidenden biographischen Aspekten, sondern auch umfangreiche Materialien, die das „Projekt Arp Schnitger“ jeweils entlang der Zeitachse und inhaltlich bis in Details nachvollziehbar machen. Durch das Zusammensetzen relevanter Informationsbausteine entsteht so ein Porträt der Grundlagen, Motivationen und Qualitäten orgelhistorischer Forschung um 1920/30 – eine Zeit, in der sich die Instrumentenkunde als Teildisziplin universitärer Musikwissenschaft konstituierte und die ihrerseits auf den Umgang mit der Musik vergangener Jahrhunderte, insbesondere ihre Interpretation ein- beziehungsweise zurückwirkte.
Aus dem Vorwort von Antje Becker
Klappenbroschur, VI + 225 Seiten