"Gäbe es eine Himmelsrichtung, die etwa Wosten oder Oesten hieße, dann hätte ich sie als Titel meines Stückes gewählt. Denn die Windrose hier zeigt nicht auf einen einzigen Bestimmungsort, den man mit immer gleichem Kurs erreicht; sie ist einem Wegweiser ähnlich, der wie ein Januskopf auf entgegengesetzte Ziele hinweist. Thema der Komposition Westen ist das gegenseitige Geben und Nehmen zweier Musikkulturen, das sich zunächst in einer tiefgreifenden Afrikanisierung Nordamerikas äußerte und später, aber nur teilweise und deutlich schwächer, zur Amerikanisierung der Musik Afrikas führte. Musik der Schwarzen? der Weißen? der Schweißen?
Es ist zunehmend schwieriger geworden, eindeutige Antworten auf diese Fragen zu finden, weil die kulturelle Identität der Völker heute nicht im Ästhetischen ihren Brennpunkt hat, sondern hauptsächlich und mit ganzer Virulenz im sozio- und geopolitischen Bereich. Vielleicht ist es eine Ironie des Rachegottes, daß die afrikanischen Sklaven aus den Amerikanern - musikalisch gesehen - ein Naturvolk machten. In Graden der Langzeitwirkung gemessen, haben jedenfalls die Schwarzen die Weißen kolonialisiert. Dies alles hat mich schon immer interessiert, vielleicht deswegen, weil mir die Betonung von Reinheit in Zusammenhang mit dem Begriff Kultur häufig etwas fad, ja suspekt vorgekommen ist. Erst dann werde ich auf den grundsätzlichen Mehrwert der offenen und der verborgenen Einflüsse aufmerksam, die sich optisch und akustisch offenbaren.
Im August 1970 reichte ich das Exposé für eine Fernsehproduktion ein, die aus verschiedenen Gründen, aber vor allem wegen der Problemstellung, nicht angenommen wurde. Der Film trug den Titel Weiß auf Schwarz, dessen Handlung ich dem Hörer von Westen nicht vorenthalten möchte. Sie kann einige der oben skizzierten Gedanken verdeutlichen:
'Eine musikanthropologische Expedition aus Europa trifft in Afrika ein, Zweck der Forschungsreise ist die Bestandsaufnahme der Musik- und Tanztradition eines Negerstammes, welcher, dank seiner ungünstigen geographischen Lage, wenig Kontakt mit dem zivilisierten Teil des schwarzen Kontinents hat. Die Weißen sind mit Geschenken reich bewaffnet - Handspiegel, Glaskugeln, Taschenmesser usw. sowie Transistorradios - die sie sogleich bei ihrer Ankunft verteilen. Nach Tagen der Verhandlungen kann die Arbeit beginnen. Die Vereinbarung sieht eine gründliche Prozedur vor: zuerst sollen die Älteren, dann die Jüngeren jeweils einzeln ihre Gesänge und Tänze vortragen. Einige Wochen später stellen die Schwarzen mit Entsetzen fest, daß sich unerklärliche Todesfälle plötzlich mehren. Dies ist erstaunlich, weil die Menschen dieses Stammes sonst ein außergewöhnlich hohes Lebensalter erreichen. Krankheiten oder Epidemien sind nicht festzustellen. Die Schwarzen versammeln sich um ihren Medizinmann und beraten aufgeregt mehrere Tage lang. Sie kommen zu der Erkenntnis, daß nur diejenigen gestorben sind, die den Weißen alle Melodien vortrugen, die sie in Erinnerung hatten. Eine wütende Menge stellt sich den Wissenschaftlern gegenüber. Diese schaffen es jedoch, mit nochmaligen Geschenken und dem Versprechen, die gesamte Küchenausrüstung nach Beendigung des Vorhabens zu hinterlassen, sie zu beschwichtigen.
Die Arbeit wird fortgesetzt. Etwas jedoch hat sich im Verhalten der Schwarzen verändert: die scheinen jetzt ein viel größeres Erinnerungsvermögen zu haben. Eine ungeahnte orale Tradition verbreitet sich. Die Sitzungen werden länger und die früher einfache, klar umrissene Folklore wird reichhaltiger und komplexer. Die Wissenschaftler allerdings sind bei Wiederholungen unerbittlich: sie brechen sofort ab und verlangen nach ihnen noch unbekannten Melodien. In der Angst, ein Versiegen ihrer Phantasie mit dem Tode zu bezahlen, beginnen die Schwarzen Elemente der abendländischen Musik mit-einzubeziehen, die sie von Schallplatten abgelauscht haben, die ein Tontechniker abends in seinem Zelt abspielt. Allmählich vollzieht sich der unmerkliche, unaufhaltsame Übergang zu einer vollkommenen Nachahmung. Einige Wochen später verlassen die Wissenschaftler zufrieden das Dorf und lösen nicht nur ihr Versprechen wegen der Küchenausrüstung ein, sondern überlassen den Schwarzen auch großzügig Plattenspieler und Schallplatten. Jahre später kommt eine musikanthropologische Expedition aus Afrika nach Bayern...'
Westen, ein Kompositionsauftrag des WDR, ist meinem Freund und Redakteurhebammer Klaus Schöning gewidmet, an dem ich in den vielen Jahren unserer Zusammenarbeit mit Freude beobachten durfte, daß die Kunst des Akustischen tatsächlich helfen kann, das Gras wachsen zu hören.
(Mauricio Kagel)