Aus dem Nachwort der Notenausgabe:
Das im Mai 1871 vollendete Schicksalslied op. 54 für Chor und Orchester von Johannes Brahms gehört zur Gattung der Weltlichen Kantate.
Wegen der zentralen Rolle des Chores war diese Gattung von großer Bedeutung für die Musikkultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die wesentlich durch die bürgerlichen Musik- und Chorvereinigungen geprägt wurde. Die hohen Aufführungszahlen belegen die schnelle Integration des Werkes in das Musikleben seiner Zeit.
Nach der Uraufführung am 18. Oktober 1871 in Karlsruhe erklang das Schicksalslied bis zum Jahr 1880 weit über 30mal in den großen Konzertsälen Deutschlands, der Niederlande und der Schweiz.
Wie allen seinen Weltlichen Kantaten hat Brahms auch dem Schicksalslied einen Text hohen literarischen Ranges zugrundegelegt.
Mit dieser Textwahl entspricht er nicht nur der Erwartungshaltung des gebildeten Bürgertums, sondern er verweist auch auf den ästhetischen Anspruch, den er selbst mit seinen Chorwerken verbindet.
Über die Textfindung und den Beginn der Komposition des Werkes berichtet Brahmsens Freund Albert Dietrich: "Im Sommer [1868] kam Brahms noch einmal um mit Reinthaler's und uns einige Parthien in die Umgegend zu machen. Eines Morgens fuhren wir nach Wilhelmshaven, Brahms interessierte es, den großartigen Kriegshafen zu sehen. Unterwegs war der sonst so muntere Freund still und ernst. Er erzählte, er habe am Morgen (...)im Bücherschrank Hölderlin's Gedichte gefunden und sei von dem Schicksalslied auf das Tiefste ergriffen. Als wir später nach langem Umherwandern und nach Besichtigung aller interessanten Dinge ausruhend am Meere saßen, entdeckten wir bald Brahms in weiter Entfernung, einsam am Strand sitzend und schreibend. Es waren die ersten Skizzen des Schicksalsliedes (...). Eine schon geplante Parthie (...) unterblieb. Er eilte nach Hamburg zurück, um sich der Arbeit hinzugeben. "
Die Fertigstellung der Komposition wird Brahms bis ins Jahr 1871 beschäftigen, wobei ihm in der Hauptsache die Gestaltung des Schlusses große Probleme bereitete.
Die vorliegende Urtext - Neuausgabe der Partitur basiert auf dem von Eusebius Mandyczewski in Band 19 der Gesamtausgabe vorgelegten Notentext.
Hinzugezogen wurde außerdem Brahms' Handexemplar des Erstdrucks (Simrock, 1871), das eigenhändige Korrekturen vom Komponisten aufweist (Wien, Gesellschaft der Musikfreunde, Nachlaß Brahms).
Marion Saxer