OP.108 Urtextausgabe
40 Jahre trennen in Faurés seine erste Sonate von der zweiten: 1875 wurde die A-Dur-Sonate komponiert und Anfang 1876 fertiggestellt. Die e-Moll-Sonate entstand in den Jahren 1916/17.
Man könnte meinen, daß Fauré mit seiner ersten eine Art Synthese seiner Jugend wiedergibt und die zweite sein Alter resümiert.
Doch läßt sich dieses Alt-Sein nicht etwa mit dem von Brahms oder Saint-Saëns vergleichen: Wenn man auch die innere Ruhe und die Schwermut, die des öfteren aus seinem Alterswerk strömt, hervorhebt, so ist dieses nicht minder von jugendlicher Leidenschaft und glühender Vitalität geprägt - eine ziemliche Seltenheit bei bejahrten Künstlern.
Es ist schon der Mühe wert, zur Sonate op. 13 einige Meinungen zeitgenössischer Komponisten zusammenzutragen. Camille Saint-Saëns, der ehemalige Lehrer Faurés, schreibt im Jahre 1877 dazu: "Es ist das Werk eines neuen Meisters, der vielleicht der furchterregendste unter allen ist, denn er verbindet mit tiefen musikalischen Kenntnissen eine ungeheure musikalische Fülle und eine Art unbewußter Naivität, deren Kraft man am wenigsten widerstehen kann. Man findet in dieser Sonate all das, was den Feinschmecker verlocken kann: neue Formen, ausgesuchte Modulationen, ungewöhnliche Klangfarben, die Verwendung von unerwarteten Rhythmen. Und über allem schwebt ein Zauber, der das ganze Werk einhüllt und der die Menge der gewöhnlichen Zuhörer dazu bringt, die ungeahntesten Kühnheiten als etwas ganz Natürliches zu akzeptieren."
Bei dieser letzten Prophezeiung war Saint-Saëns allerdings im Irrtum, denn es bedurfte mehrerer Jahrzehnte, bevor die Menge der gewöhnlichen Zuhörer die Sonate wirklich erfaßte.
Der Tschaikowski-Schüler Serge Tanejew - er kam im Oktober 1876 nach Frankreich und wurde Fauré von Iwan Turgenjew vorgestellt - schrieb, nachdem er die A-Dur-Sonate kennengelernt hatte, 1877 an seinen Lehrer: "Auf Schritt und Tritt finden Sie in dieser Sonate die originellsten und neuartigsten Harmonien, Modulationen von außerordentlicher Kühnheit, doch trotz alledem nichts, was schroff klänge, was das Ohr verwundete. Und dies ist erstaunlich schön!"
Mit der zweiten Sonate op. 108 eröffnet sich das weite Feld der kammermusikalischen Werke aus der letzten schöpferischen Periode Faurés. 1916 bis 1917, mitten in der Zeit des 1. Weltkrieges geschaffen, scheint sie vor allem in ihrem ersten Satz die Ängste und Schrecken des Krieges widerzuspiegeln, so, wie im 12. Nocturne für Klavier, das ein Jahr vorher komponiert wurde.
Man findet dort allerdings keine buchstabengetreue Illustration, und man würde so etwas wohl letztendlich von einem Musiker auch nicht erwarten können, der erklärt hatte: "Für mich besteht die Musik vor allem darin, uns so weit wie möglich über das zu erheben, was ist."
Nichts von der zerquälten Stimmung des ersten Allegros findet sich mehr im Andante: Aus einem reinen und fast naiv wirkenden Thema (es ist aus dem Andante der d-moll-Sinfonie op. 40 entstanden, die 1884 komponiert, dann aber vernichtet wurde) entwickelt Fauré einen friedvollen und tiefgehenden Satz, der in einer bis zum äußersten schwärmerischen Extase endet.
Alles, was Musik an strahlender Freude, an Inbrunst und Begeisterung auszudrücken vermag, findet man im Finale in E-Dur, doch da sich solche Gefühlsregungen nur in Kontrasten sichtbar machen lassen, unterbricht Fauré zuweilen seinen Enthusiasmus durch ein träumerisch-zärtliches Thema, das keiner präzisen Tonart anzugehören scheint.
Offenbar, um den einheitlichen Eindruck des Werkes zu verstärken, läßt Fauré gegen Ende die beiden Themen aus dem 1. Satz wieder anklingen, wenn auch leicht in ihrem Charakter verändert. Mit dem 2. Thema aus dem ersten Allegro, das strahlend triumphiert, findet das Finale einen glanzvollen Abschluß.
Die zweite Sonate wurde der Königin Elisabeth von Belgien gewidmet, und Alfred Cortot und Lucien Capet führten sie erstmals am 10. November 1917 auf. Ihr war weder der Erfolg der Sonate op. 13 noch der der Sonaten Francks und Debussys beschieden.
Doch kann man nicht daran zweifeln, daß sie sich letztendlich doch durchsetzen wird, denn mehr und mehr beweisen Publikum und Musiker Verständnis für den "alten Fauré".
Vergleicht man den Stil im Alterswerk von Fauré mit den jungen modernen Komponisten jener Zeit (Groupe des Six, Bartók, Hindemith, Schönberg), wird man sich wirklich dessen bewußt, daß es Fauré verstanden hat, seinen ganz individuellen Weg beharrlich und harmonisch in Richtung der Moderne zu gehen.
Alex von Amerongen