„Wir erachten Rheinberger’s neues Klavierkonzert für eines seiner bedeutendsten und genialsten Werke”, schrieb ein Kritiker 1876 nach der Uraufführung des virtuosen Konzertes op. 94, das sich eines spontanen Erfolges in den deutschen Musikzentren erfreuen konnte.
Werkverzeichnis: op.94
Kompositionsjahr: 1876
Besetzung: 2 Fl, 2 Ob, 2 Clt, 2 Fg, 2 Cor, 2 Tr, 3 Trb, Timp, 2 Vl, Va, Vc, Cb, Pfte
Tonart: As-Dur
Dauer: 30 min
Seiten: 224
Reinbergers 1876 entstandenes Klavierkonzert ist alles andere als ein typisches Virtuosenkonzert in der Tradition Liszts, Thalbergs oder gar Chopins. Beim ersten Kennenlernen des Werkes ist man sogar ein wenig enttäuscht: farb- und konturlos der erste Eindruck (der erste Soloauftritt des Klaviers wird gar nur mit den drei Kadenzakkorden bestritten). Erst wiederholtes Hören und intensives Studium enthüllen die Vorzüge dieses an versteckten Schönheiten reichen Werkes.
Wie in manchen seiner Kammermusikwerke ist das Klavier hier in ständiger Bewegung; dabei übernimmt der Solist eher die Rolle eines primus inter pares, der mit dem Orchester einen kultivierten Dialog führt, ohne jedoch in den von dem Wort "concertare" (= wetteifern, streiten) geforderten kritischen Dialog mit dem Orchester einzutreten. Mit dieser Haltung steht es eher in der Tradition der letzten Beethoven‑Konzerte oder Schumanns a‑Moll‑Konzert op. 54 und bereitet den Boden für das wenige Jahre später geschriebene B‑Dur‑Klavierkonzert op. 83 von Johannes Brahms. Dass Solist und Orchester dabei buchstäblich in zwei verschiedenen Welten leben und musizieren, nimmt Rheinberger (bewusst?) in Kauf. Zahlreich sind die Stellen, an denen Rheinbergers eigene Persönlichkeit, die durchaus versponnene und weltfremde Züge getragen hat, auch in seiner Musik durchscheint: Etwa in der großen Solokadenz des ersten Satzes, die (ausgerechnet!) mit einer selbstversunkenen Fuge über ein Motiv beginnt, das im symphonischen Verlauf bislang keine Rolle gespielt hat und nur gelegentlich im komplizierten Satzgefüge mit drei Hauptthemen und seinen wichtigen Motivpartikeln aufblitzt. Man kommt nicht umhin, dem Solisten schwere Kommunikationsprobleme zu attestieren - oder, wie Han Theill es in seinem lesenswerten Vorwort so schön formuliert, als würde er "wie der Stier Ferdinand in einem berühmten spanischen Bilderbuch lieber friedlich an einem Blümchen schnuppern, als sich von der großen Arena zum Kämpfen provozieren zu lassen".
Vielleicht ist dieses Konzert sein persönlichstes Werk. Musik eines selbstkritischen und schüchternen Gelehrten, der mit großem Ernst versucht, einer "öffentlichen" Führungsrolle gerecht zu werden, zu der er zwar alle Fähigkeiten besitzt, zu der ihn aber nichts hinzieht, weil er den Sinn von "Startum" und öffentlicher Zurschaustellung der eigenen Persönlichkeit nicht begreift. Warum also ist dieses schöne Stück eigentlich aus unseren Konzertsälen verschwunden? Lag es womöglich nur daran, dass mit der Carus‑Edition erst jetzt eine mustergültige Neuausgabe vorliegt? Oder an Rheinbergers "schlechtem" Ruf, den immer ein Hauch trockenen Akademikertums umwehte? Diese Hürde ist nun genommen - mögen sich die Pianisten dieses Konzertes annehmen. Es ist die Mühe wert.
Hans-Dieter Grünefeld
Quelle: Piano 2/04